Senziger Geschichten


1918

Ein Wanderer berichtet über [s]einen Besuch im sommerlichen Senzig


  Wer einmal eine herrliche Dampferfahrt in die schöne Dubrow und nach dem idyllischen Teupitz unternommen hat, der fuhr dabei auch bald hinter Neue Mühle durch den großen Senziger- oder Krüpel-See. Und kaum war der Dampfer an der Husarenecke in den See eingebogen, so wird der Ausflügler am gegenüberliegenden Ufer einige rote Dächer durch das saftige Grün einiger alten Bäume hindurchschimmern gesehen haben: Senzig!

  Auch wir wollen heute Senzig einen Besuch abstatten. In aller Frühe begeben wir uns zum Bahnhof, und das Dampfroß führt uns in ¾ Standen von Berlin nach Königswusterhausen. Wir haben uns hier das alte Jagdschloß angesehen und befinden uns nun auf dem Wege nach Neue Mühle. Im Wirtshaus an der Schleuse laben wir uns an einem kühlen Trunke und wandern dann auf stiller Chaussee durch den herrlichen Tiergarten zum Chausseehaus, das einsam im Wald liegt, dort, wo sich die Wege nach Königswusterhausen, Neue Mühle und Senzig kreuzen.


1918

Das ehemalige Zollhaus an der Chaussee zwischen Königs Wusterhausen und Senzig (Chausseehaus).

 (Rekonstruktion einer fotografischen Abbildung: Herbert Turley, Senzig)


 Wenn man hier noch vor etwa zehn Jahren vorbeifahren wollte, so steckte wohl ein alter Hebebeamter seinen Kopf durchs Fenster und rief den Dahinfahrenden ein gebieterisches „Halt“ zu, und erst, wenn man sein Nickelstück in einen dargereichten Geldbeutel gelegt hatte, durfte man unbehindert seines Weges ziehen.

  Wir wenden uns nun nach links und haben bald den Tiergartenrand erreicht und mit ihm gleichzeitig die Grenze von Königswusterhausen und Senzig. Noch einmal macht die Chaussee eine Biegung, und schon haben wir die ersten Häuser von Senzig vor uns. Einige kleine Villen und das erste Lokal bilden den Eingang ins Dorf. Eine Ziegelei schließt sich daran an. Die Senziger Ziegelei, wie auch die vielen in Körbiskrug, gehören einem Besitzer, dem man einen bedeutenden Reichtum zuerkennt. Die Ziegelei ist eine schon sehr alte Anlage. Aus den morschen Steinen des Ziegelofens sieht man bereits einige junge Birken hervorsprießen. Es ist ein schöner Anblick, wie verträglich alt und jung zueinander stehen.

  Wenden wir uns jetzt nach links. Dort tritt der Krimnick-See fast bis an die Landstraße heran. Ein wundervolles Bild bietet sich dem Beobachter von hier aus. Vor ihm plätschern kleine Wellen an das Ufer, das hier mit saftigem Klee bestanden ist. Geradeüber spiegeln sich ernst die Kronen der alten Tiergarteneichen im Wasser, und etwas weiter nach rechts sieht man die Häuser von Senzig und Zernsdorf.

  Einen Blick werfen wir in die alte Sägemühle, von der eben ein Signal Frühstück ankündigt. Auch wir wollen jetzt unser Frühstücksbrot verzehren, und dazu ladet der Spitzberg ein, der nicht fern von hier ist. Bald ist der Gipfel erreicht, und nachdem wir uns zum Weitermarsch gestärkt haben, schauen wir uns erst einmal um. Wenn man vom Spitzberg herab auf den Senziger-See blickt, so ist man über dieses herrliche Panorama geradezu entzückt. Erhöht wird der Reiz, wenn man beim Sonnenuntergang auf dem Spitzberg steht. Dann herrscht über dem ganzen Dorf und über Wald und Feld atemlose Stille. Ein rechter Abendfrieden ist der Natur beschert. Ganz still liegt dann auch der See, von keiner Welle gekräuselt, und die Aussicht vom Spitzberg ist zur Abendzeit eine unvergleichlich schöne. Bei gutem Wetter kann man bis nach Erkner sehen. Auch heute ist uns Sonnenschein beschieden, und ohne Feldstecher können wir im Norden die Kranichsberge bei Woltersdorf und den Müggelturm mit der Bismarckwarte erkennen. Westlich sehen wir das alte Rittergut Zeesen und den großen, fischreichen Zeesener See, und ganz von ferne winkt die alte Kirche von Mittenwalde herüber. Wie wohltuend wirken die saftigen Wiesen und Aecker, die sich zwischen Zeesen und Mittenwalde erstrecken, auf das Auge! Im Süden sieht man die zahlreichen Ziegeleischornsteine von Körbiskrug und gang ferne das Gräbendorfer Schloß und die Dubrow. Oestlich begrenzen, nur ein blauer Dunst, die Rauenschen Berge unseren Blick. Fürwahr, hier oben ist´s herrlich!

  Doch uns steht heute noch viel bevor. Verlassen wir darum den Spitzberg! Beim Abstieg treten wir wieder auf die Landstraße. Dem Schmied, der lustig hämmernd in seiner Schmiede ein Liedlein singt, werfen wir einen fröhlichen Gruß zu. Sein ping, ping, ping tönt uns noch lange in den Ohren. Die Häuser die jetzt die Landstraße begrenzen, werden von Handwerkern, Sägemühl- und Ziegeleiarbeitern bewohnt. Erst das nächste Gasthaus ist das erste größere Gebäude. Doch nun biegen wir in die Lindenstraße. Hier ist der Kern des Dorfes. Hier stehen die alten Bauernhäuser, noch aus Urgroßvaters Zeiten, meist mit Strohdächern versehen, und hier befindet sich auch der Dorfteich, der von einigen Maulbeerbäumen umgeben ist. Ringsum, im frischen Grün, weiden fette Gänse.

  An einigen Häusern vorbei gelangt man zum ehemaligen Gemeindeamt. Vor ihm erhebt sich eine gewaltige Gedächtniseiche für die 1870 gefallenen Senziger Helden. Den größten Eindruck machen auf uns aber die uralten Linden, die wohl noch Zeugen früherer, besserer Jahrhunderte sein mögen. Ihre Stämme sind von zahlreichen Blitzschlägen gespalten, Oeffnungen, die Einem bequeme Unterkunft bei Regenwetter bieten. Doch, wenn auch gespalten und verwettert, noch stehen sie, die alten Linden!

  Am Ende dieses Dorfplatzes erhebt sich die Senziger Schule, ein neumodischer und nicht gerade eindrucksvoller Bau. Mehr heimelt Einem da das alte Schulhaus an, das in größter Einfachheit errichtet wurde und augenblicklich leer steht. Hieran schließen sich einige Villen. Sie konnten in Senzig keine schönere Lage finden; denn hier ist es wirklich herrlich, zumal man sich wieder am Ufer des Sees befindet.

  Doch es ist inzwischen Mittag geworden und wir treten ins Gasthaus. Kein Mensch sitzt in der Gaststube, nur auf dem Fensterbrett liegt zusammengerollt eine spinnende Katze. Aber vom Hofe her vernimmt man Grunzen der Schweine, Meckern der Ziegen und Hühnergegacker.

  „He, Wirt!“ – Ein Mann in Hemdsärmeln erscheint in der Tür, und er mag sich wohl wundern, heute an einem Werktage fremde Gäste zu bekommen. Wir bestellen bei ihm ein Mittagessen und versprechen, in einer halben Stunde wiederzukommen. Inzwischen besuchen wir den Friedhof. Eine Kirche haben sich die Senziger noch nicht leisten können.

  Hier auf dem Friedhof findet man zuerst ganz alte Gräber. Altmodische, ländliche Grabsteine zieren die Grabhügel, und über ihnen wachsen Kastanien und Trauerweiden. Erst weiterhin schließt sich der neue Friedhof an. Doch hier sieht man schon die Geschmacklosigkeit der Neuzeit. Man kann auf dem Senziger Friedhof nicht viel sehen, kein berühmtes Grab finden. Er ist ein Dorffriedhof, wie jeder andere. Wir schließen darum leise das Friedhofstor und sind wieder auf der Landstraße.

  Doch kehren wir jetzt in die Wirtsstube zurück. Dort trägt eben unser Wirt das Essen auf. Nach dem Mittagessen suchen wir den Wald auf, und dort lassen wir uns zu kurzer Ruhe nieder.

  Dann schlendern wir langsam weiter. Noch haben wir nicht ganz Senzig gesehen. Unterwegs begegnen wir einem Bauern mit seinen Pferden, der eben aufs Feld zur Arbeit geht. Wir rufen ihm einen Gruß zu und er erwidert gemütlich: „Tach, Tach och!“. Hier zweigt ein Weg nach Gussow ab. Anfangs wird er von Maulbeerbäumen, später von Weiden und Pappeln begleitet. Die schönsten Weiden und Pappeln liegen zu beiden Seiten.

   Unser Weg führt uns auf der Hauptchaussee weiter. Hinter der großen Wiese kommen wir in das sogen. Geschäftsviertel von Senzig. Hier haben sich in einigen modernen Häusern Schlächter, Zigarren-, Buchhändler und Photograph niedergelassen. Doch bald folgen wieder einige Aecker. Dort pflügt ein Bauer den schwarzen Boden.

  Nun sind wir an der Werft-Straße und biegen links in sie ein. Sollte dort wirklich eine Werft sein? Unsern Weg begleiten niedrige Arbeiterhäuschen, und richtig, dort am Wasser befindet sich eine Bootswerft. Wir verhandeln mit dem Besitzer, und er stellt uns einen Arbeiter zur Verfügung, der uns ein wenig auf den See rudern soll. Dort den grauen Kahn benutzen wir zu unserer Fahrt und dann stoßen wir vom Lande ab. Die Werft gewährt vom Wasser aus einen schönen Anblick.

  Einige hohe Pappeln schließen den Blick ab, und von der Werft zur Sandschurre führt am Ufer ein wunderschöner Weg entlang. – Es ist still heute auf dem Wasser. Nur ganz in der Ferne sieht man einen Dampfer, und vor uns liegt still eine Zille.

  Nachdem wir an der Sandschurre vorbeigefahren sind, klärt uns unser Begleiter über die Senziger Bewohner auf.

  Der Dorfschulze wird gewöhnlich aus dem Bauernstande erhoben. Nur einige zwanzig Bauern wohnen noch in Senzig, die anderen Dorfbewohner sind entweder Tagelöhner bei den Bauern oder sie verdienen ihr Brot in der Ziegelei und im Sägewerk.

  Eben erblicken wir einen hellen Schornstein und unser Begleiter erklärt uns, daß dieser zur Sandsteinfabrik gehöre, die früher auch viele Senziger beschäftigte, die nun aber schon lange darniederliege. Auch in der Sandgrube sind mehrere Dorfbewohner beschäftigt. Dort wird weißer Bausand gefördert und in kleine Lowren verladen. Eine kleine Lokomotive bringt diese auf die Sandschurre, von wo aus der Sand in große Kähne verladen wird, die ihn meist nach Berlin bringen. Viele Senziger sind aber auch nur einfache Arbeiter, die in der großen Wildauer Maschinenfabrik von Schartzkopff oder bei der Eisenbahn in Königswusterhausen beschäftigt sind.

  „Wozu gehört jener Wasserturm?“ fragen wir unseren Begleiter, und redselig erklärt er uns, das sei Zernsdorf und hier befinde sich eine Teppichfabrik und auch eine Sägemühle.

  Nun liegt Senzig bald hinter uns. Mehr und mehr entschwindet es unseren Blicken. Noch einmal winken wir ihm unseren Abschiedsgruß zu, und während der Schornstein der Senziger Sandsteinfabrik immer kleiner wird, sieht man die Häuser von Cablow allmählich auftauchen. Von Bindow her kommt unter Musikklängen ein aus Teupitz heimkehrender Dampfer. Eben fährt unser Schiff auf den Sand. Es ist bereits nach 6 Uhr, und wir beschließen, von Cablow die Heimfahrt anzutreten. Darum lohnen wir unseren Begleiter ab und danken ihm für seine Mühe und Unterhaltung.

  Als wir auf der Grunower Kleinbahn sitzen, denken wir noch einmal an die schönen Stunden, die uns in Senzig zuteil wurden, und unsere Gedanken begleiten die gleichmäßigen Glockenschläge der Lokomotive. Bim, bim, bim.  

(Schreibweise und Interpunktion unverändert übertragen)